Ein Einblick in die Erfahrungen von Coach e.V. in Zeiten von Corona. Dieser Artikel ist zuerst im Fachmagazin „JUNGE*JUNGE – Das Magazin der lag Jugenarbeit NRW“ erschienen. Geschrieben von Ferdaous Kabteni, Öffentlichkeits- und Projektmitarbeiterin bei Coach e.V.
Über die Vereinbarung von Social Distancing und Sozialer Arbeit hin zur Digitalisierung und Finanzierung: Vor diese und andere Herausforderungen sehen sich viele soziale Organisationen in der Covid19-Pandemie gestellt. Rückblickend betrachtet, wurde die digitale Schieflage im ersten Lockdown im März/April schnell sichtbar. Auf Seiten der Akteur*innen, die an dieser Stelle als Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) spezifiziert werden sollen, wurde deutlich, dass die allerwenigsten über ein medienpädagogisches Konzept geschweige denn über ein zielgruppengerechtes, digitales Alternativprogramm verfüg(t)en.
Welche pädagogischen Angebote sind datenschutzkompatibel und sicher? Wo bekomme ich als Fachkraft Anleitung und Unterstützung? Quasi über Nacht mussten digitale Antworten auf unterschiedliche Fragen gefunden werden, vor allem aber darauf, wie Kinder und Jugendliche mit Unterstützungsbedarfen trotz der Kontaktbeschränkungen auch während der Krise erreicht, begleitet und unterstützt werden können.
Um digitale Teilhabe zu ermöglichen, sind digitale Zugänge sowie ein Mindestmaß an Medienkompetenz seitens der Empfänger*innen für das Gelingen jedweder digitaler Unterstützungsangebote Voraussetzung. Nur so können Menschen überhaupt erreicht und somit über verschiedene Unterstützungsmaßnahmen informiert werden.
Was das konkret im Fall von Menschen mit Fluchterfahrung und spezifisch im Fall geflüchteter Jungen* bedeutet, kann an dieser Stelle aufgrund der fehlenden Datenlage nur qualitativ erörtert werden. Klar ist, dass fehlende digitale Endgeräte und Zugänge, sprachliche und finanzielle Barrieren sowie unzureichende Privatsphäre in Flüchtlingsunterkünften oder Wohnheimen diese Zielgruppe besonders hart treffen.
Digitale Teilhabe ohne digitalen Zugang?
Coach e.V, erreicht viele geflüchtete Jungen* durch das Ausbildungscoaching und Beratungsangebote; viele können in weitere non-formelle Bildungsangebote einbezogen werden. Im Kontext der Einzelfallberatungen war und ist noch bis heute häufig von „Stillstand“ die Rede: Durch die coronabedingten Einschränkungen im Arbeitsmarkt, im (Aus-) Bildungsbereich, bei Behörden und Kultur- und Freizeitangeboten, kann von einem gravierenden Einschnitt in den Lebensweg dieser jungen Männer* gesprochen werden.
Unterstützungssysteme sind kaum erreichbar
Gerade beim „Shutdown“ wurden fast alle Unterstützungsstrukturen ins Digitale verlagert. Wenn Hilfesuchende aber nicht über die nötigen digitalen und sprachlichen Zugänge verfügen, wie gelangen sie dann an Unterstützungssysteme? Im schlimmsten Fall lautet die Antwort: gar nicht! Teilweise berichten geflüchtete Jungen*, von der Grundversorgung abgeschnitten worden zu sein, weil wichtige Informationen an der Zielgruppe vorbeisickerten.
Ein weiteres immer wiederkehrendes Thema ist die Klärung des Aufenthaltstitels, ein Prozedere, das sich über Jahre erstrecken kann und zur Zerreißprobe wird, da essentielle Lebensfragen an den Aufenthaltsstatus geknüpft sind. Beim ersten Lockdown war der einzige Weg mit der Kölner Ausländerbehörde in Kontakt zu kommen, per E-Mail, die aber über Wochen hinweg aufgrund der großen Auslastung auch für Fachkräfte der Sozialen Arbeit nicht zu erreichen war. In puncto Erreichbarkeit eröffnet sich dabei eine weitere Thematik, die gerade für die Lebenssituation geflüchteter Jungen* besonders prekär ist. Mit einem ungeklärten Aufenthaltsstatus oder einem Schufa-Eintrag wird der simple Kauf einer SIM-Karte für das Mobiltelefon – und damit ein niederschwelliger Zugang zum Internet – schlichtweg unmöglich. Digitale Teilhabe? Fehlalarm!
Hinzu kommt, dass es Migrant*innenselbstorganisationen als wichtige Ansprechpartner*innen geflüchteter Jungen* oftmals selbst an digitaler Ausstattung und Infrastruktur fehlt, um den Bedarfen gerecht zu werden. Bei beruflicher Eingliederung, Sprachförderung und bloßer Systemintegration sollte das Konzept von Partizipation und Teilhabe allerdings nicht stehenbleiben.
Wir wollen den Begriff der digitalen Teilhabe umfassender denken, im Sinne einer politischen, kulturellen und sozialen Partizipation – und wie diese auch digital gelingen kann. Auch da wurden im Frühjahr Defizite sichtbar: Viele Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit haben wegen der Kontaktbeschränkungen ihre Aktivitäten in den Sozialen Medien angepasst, um die Beziehung zu ihrer Zielgruppe aufrechtzuerhalten. Ein regelrechter Boom an neuen Instagram-Accounts sowie neuer digitaler Formate, wie Live-Talks, Konzerte oder digitalen Sprechstunden, hat eingesetzt.
Dabei stellt sich auch hier die Frage, wie und ob die Zielgruppe geflüchtete Jungen* explizit mitgedacht wird und welche Öffnungs- bzw. Schließungsprozesse auf Social Media für sie bestehen? Welchen rassistischen Ausschlussfaktoren sieht sich diese Zielgruppe im sozialen Netz ausgesetzt? Welche digitalen Räume gibt es überhaupt für geflüchtete Jungen* und wo halten sie sich auf? Ihre Perspektiven und Stimmen sind im öffentlichen Diskurs kaum vernehmbar, somit stehen auch diese Fragen unbeantwortet im Raum.
Spendenaktion-Start mit „Hilfe Digitalisierung“
Um die Zielgruppe Kinder, Jugendliche und ihre Familien mit Zuwanderungs- und Fluchtgeschichte weiterhin mit Angeboten wie Lernförderung, Hausaufgabenhilfe, Beratung oder Berufsorientierung erreichen zu können, mussten im Frühjahr schnell Lösungen gefunden werden. Und weil ohne Unterstützung nicht jede*r an ein digitales Endgerät herankommt, startete Coach e.V. bereits im März eine Spendenaktion, damit faire Bildungschancen auch und gerade während der Pandemie für alle möglich sind. Unter dem Kennwort „Hilfe Digitalisierung“ wurde dazu aufgerufen, funktionsfähige Smartphones, Laptops sowie Tablets zu spenden. So kamen innerhalb weniger Tage die ersten Laptops zusammen. Innerhalb von vier Wochen waren es bereits mehr als 100 Endgeräte. Ein Großteil der Netbooks wurde an Kinder und Jugendliche von Coach e.V. sowie weitere soziale Einrichtungen und Organisationen rund um Köln verteilt.
Nicht nur Endgeräte werden gebraucht
Digitale Teilhabe – das hat die Corona-Pandemie einmal mehr gezeigt – wird immer wichtiger, um überhaupt handlungsfähig im Sozialstaat zu bleiben. Psychische Folgen der coronabedingten Isolation, Einsamkeit, Sorgen drängen nach pädagogischer bzw. psychologischer Unterstützung. Und nicht nur Psycholog*innen werden gebraucht, sondern auch Lehrer*innen und Pädagog*innen, die geflüchtete Jungen* beim digitalen Lernen begleiten und beispielsweise beim Bedienen von Lernsoftwares unterstützen sowie eine angemessene individuelle zielgruppengerechte Betreuung und Förderung leisten können.
Ein elektronisches Endgerät und ein mobiles WLAN sollte für jeden Menschen im digitalen Zeitalter als Bestandteil der Basisversorgung zur Verfügung stehen. Die Voraussetzungen, um digitale Teilhabe zu ermöglichen und digitale Angebote nutzen zu können, müssen umgehend geschaffen werden. Das schließt einen sicheren Zugang zu schnellem Internet und die Gewährleistung der IT-Sicherheit ein.
Der Staat bleibt zudem in der Pflicht, Verwaltungsangebote und den Zugang zu Bildungs- und Unterstützungsangeboten auch digital sicher zu stellen. Denn nur so können alle Menschen digital am sozialen, wirtschaftlichen und politischen Leben teilhaben – und nur so kann verhindert werden, dass die Schere mit Blick auf Chancen- und Bildungsgerechtigkeit weiter auseinandergeht.